Ich war wütend, fühlte mich unverdient in die Ecke gestellt. Wieder einmal waren Eltern und alle vier Großeltern in ihr fremdes, fernes Zuhause entschwoben, hatten wieder diesen alles westlich der Weichsel ausblendenden, entrückten Blick. Damit schotteten sie sich ab, bildeten eine verschworene Wir-Gemeinschaft, die mich ausschloss.
So stand ich wieder einmal vor der Tür, denn ich gehörte nicht zu dieser Wir-Welt. Das passierte mit schöner Regelmäßigkeit, denn wenn sie zusammen kamen, redeten sie sich so sehr nach Ostpreußen, dass sie mich, das Hier und das Heute einfach nicht mehr wahrnahmen.
Auf die Idee, dass ich als Kind mit ihrem Zuhause ein Problem haben könnte, kamen sie nicht. Es war ja auch ausschließlich mein Problem, denn ihr Zuhause war nicht mein Zuhause.
Hätten sie es Heimat genannt, wäre für mich als Kind vieles leichter gewesen. Aber dieses Wort benutzten sie nie, sie sagten immer zuhause, wenn sie Ostpreußen meinten.
Zumindest der Vorhof zum Paradies muss dieses Zuhause gewesen sein. Als ich noch im Vorschulalter war, zogen meine Eltern, die Großeltern väterlicherseits und ich in unser neues Haus. Wir wohnten nun in einem ganz neuen Stadtviertel, in dem ein Eigenheim nach dem anderen entstand. Bald wurde unsere Gegend auch mit einer evangelischen Kirche bedacht, eine ganz neue, damals auch durchweg aktive Gemeinde entstand.
Im Kindergottesdienst hatte ich also meine erste nachhaltige Begegnung mit Glauben und Religion, hörte vom Paradies und davon, dass die Errichtung des Reiches Gottes so etwas wie das Paradies auf Erden wäre.
Dieses Paradies auf Erden aber musste in Ostpreußen liegen, jedenfalls legte ich mir das nach den verklärten Erzählungen und Schwärmereien meiner Familie so zurecht. In meiner kindlichen Gedankenwelt hatte das Hiersein, das Leben im Stader „Exil“irgendwie mit der Vertreibung aus dem Paradies zu tun.
Ich nahm das ganz wörtlich, bloß die Sache mit dem Apfel konnte ich in der Geschichte nicht unterbringen, und die Russen wurden auch eher Iwan genannt als Eva oder Adam. Entweder hatte Gott da etwas verwechselt, oder der Pstor, aber ich traute mich nicht so recht, das zu hinterfragen.
Später begriff ich dann, dass ich da beim Kombinieren zu voreilig gewesen war. Noch später lernte ich, Abstraktes zu erfassen, wusste, dass die Vertreibung aus dem Paradies bestenfalls als Allegorie für den Verlust der Heimat taugte und das Paradies geographisch nicht zu lokalisieren ist, nicht einmal auf Ostpreußen. Viele Jahre später und erst am Ende dieses Prozesses konnte ich mir dann auch die Geschichte mit dem Apfel besser erklären – die Deutschen hatten ihre Unschuld verloren.
Die Ungereimtheiten in der Begriffswelt meiner Angehörigen beschäftigte mich meine ganze Kindheit über. Wieso sagten die bloß immer zuhause, wenn sie Ostpreußen meinten? Waren wir denn nicht in Stade zuhause? Wir hatten doch hier unser Haus, wieso hatten sie das dann überhaupt gebaut? Oder konnte ein Mensch mehrere Zuhause haben.?
Das verunsicherte mich, das machte mich wütend, weil mich alles brüten nicht weiter brachte. Manchmal knurrte ich trotzig: wir wohnen doch hier, also sind wir hier auch zu Hause. Dann betrachteten sie mich als Trotzköpfchen und lächelten wissend mit diesem ziehenden, melancholischen Unterton, diesem Hauch von Trauer tätschelten sie mich und sagten: das verstehst du nicht. Zack! Das war’s dann wieder und machte mich eher noch wütender. Klar, ich kannte dieses Zuhause ja nicht, konnte vor allem damals als kleines Kind nicht ermessen, was sie verloren hatten. Wahrscheinlich würde ich dieses alte Zuhause auch nie kennen lernen. Ich fühlte mich ungerecht behandelt, vor allem aber ausgeschlossen von einem zentralen Bereich des Lebens meiner Familie. Als Einzige war ich hier geboren und betrachtete das fast als einen Makel – eine Außenseiterin in der eigenen Familie.
Konnte bei uns nicht einmal etwas so sein, wie bei meinen Spielkameraden? Bei anderen hieß es vielleicht, meine Großeltern kommen aus Harsefeld oder Bremervörde. Meine reisten zwar auch aus Bremervörde an, aber sie kamen aus Insterburg – Deutsch Sibirien. Nebenbei bemerkt hatte ich viel später das Gefühl, manche meiner Angehörigen wären nie ganz hier angekommen. Sie blieben etwas fremd, blieben im Exil und haben sich nie ganz auf die neuen Lebensumstände und das neue Land eingelassen, von dem sie selbst anfangs allerdings auch abgelehnt wurden.
Meine Eltern hatten sich nach dem Krieg kennen gelernt und gingen nach ihrer Heirat zügig daran, eine eigene Existenz aufzubauen, machten sich selbständig und bauten dann Mitteder 50er Jahre ihr Haus. Eine merkwürdige Diskrepanz tat sich auf. Sie standen also in ihrem Alltag mit beiden Beinen im Leben und schienen sich durchaus auf Dauer einzurichten, aber dieses für mich imaginäre, nur noch in ihren Köpfen existierenden Ostpreußen, diese geistige Gegenwelt ließ mir in meinen Kinderjahren unser Dasein in Stade irgendwie provisorisch erscheinen. Besonders in der Großelterngeneration erlebte ich so die Vergangenheit als etwas nebulös verklärtes mit schrecklichem Ende, die Gegenwart als etwas ungeliebtes nie ganz akzeptiertes und die Zukunft als etwas, woran sowieso niemand danken mochte. Nichts würde je an die Vergangenheit heranreichen und manchmal war ich mir nicht einmal ganz sicher ob es wenigstens ein heute für sie gab.
Besonders in meinen frühen Kinderjahren mit dem noch geringen zeitlichen Abstand war der Krieg mit dieser für sie finalen Katastrophe das bestimmende Ereignis im Leben meiner Familie.
Dieses traumatische Kernerlebnis war in den mich prägenden Jahren immer präsent. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand änderten sich die Gewichtungen dann etwas, viele neue Eindrücke kamen dazu. Das Aufbauen, der Neuanfang brauchte eigentlich die ganze Kraft, an der diese rückwärtsgewandte Trauer aber immer noch zehrte. Gab es überhaupt irgend etwas anderes als diese zwei Dinge Flucht und Aufbau in jener Zeit?
Ja, natürlich wurde auch gefeiert, gab es überaus frohe Stunden, vor allem bei Familienfesten. Da wurde gelacht bis die Tränen kamen, aber immer war da auch dieses ‚weißt du noch?‘, jede Menge Anekdoten, Geschichten aus einem fernen Land. Und über allem lag immer ein Hauch von Melancholie, die Wehmut über die Endgültigkeit dieses ‚es war einmal‘.
Endgültig war dieser Verlust und total, da war nicht nur die geographische Heimat verloren, eine ganze Lebenswelt war untergegangen. Diese Katastrophe der Flucht ohne Wiederkehr war etwas fundamental anderes als die Flucht meiner Großmütter im 1. Weltkrieg. Die Flucht von 1914 fand ein gutes Ende in der Rückkehr, die von 1945 wurde zum alles beherrschenden Erlebnis, zum Lebenstrauma vor allem der Frauen.
Wie tief dieses Trauma saß, zeigt sich daran, dass ich mich noch deutlich an zwei politische Krisen erinnere – die Kubakrise und den Berliner Mauerbau – obwohl ich damals gerade mal zehn Jahre alt war. Ich verstand nicht ganz genau worum es dabei ging, aber ich spürte deutlich die angespannte Stimmung. Ernst wurden alle Nachrichtensendungen verfolgt, es ging sehr gedrückt zu und mögliche Folgen wurden besprochen, auch mit den Großeltern. Und dann wurden Vorbereitungen für den Kriegsfall getroffen, die Zivilschutzbroschüre studiert, Vorräte wurden gesichtet und zugekauft. Ich wurde mit meiner Großmutter abgestellt, im Eisenwarengeschäft fast am anderen Ende der Stadt eine Spitzhacke käuflich zu erwerben. Die Angst legte sich wie ein Reif um die Brust bis die erlösende Entwarnung kam.
Der Bau der Mauer brachte ein Teil Fassungslosigkeit dazu, es war Sonntag, alle waren daheim, das Radio lief durchgehend, was es sonst bei uns nie tat und meine geliebte sonntägliche Kinderstunde, die ich gemeinsam mit den Nachbarkindern sonst atemlos gebannt verfolgte, fiel aus.
Später verstand ich, warum sie alle den Kopf schüttelten und es nicht fassen konnten. Ihre Heimat, noch weiter östlich, war gerade endgültig hinter einem Eisernen Vorhang aus Minenfeldern, Stacheldraht und meterhohen Mauern verschwunden. Zwischen Heimat und Bundesrepublik lag nun mit der eingemauerten DDR ein schier unüberwindliches Hindernis. Erst als diese Mauer fiel, sollte auch das alte Ostpreußen wieder aus der Vergessenheit auftauchen und zugänglich werden.
Ich wuchs auf in dem Bewusstsein, dass einem jederzeit alles genommen werden konnte und es war mir auch durchaus klar, dass meine Familie anders war, als die der hiesigen Schulkameraden, da musste keiner erst Flüchtlingspack oder Rucksackdeutscher schreien, was während meiner Kindheit sehr wohl noch vorkam.
Auch später hatte ich das Gefühl in dieser etwas steifen, hanseatisch geprägten norddeutschen Kleinstadt nie wirklich ganz dazu zu gehören, auch obwohl ich hier geboren war. Meine Eltern waren leidlich wohlgelitten, in gewissen Grenzen jedenfalls, der innere Kreis der Alteingesessenen blieb eine geschlossene Gesellschaft. „Bevor du nicht mindestens drei Generationen auf dem Friedhof zu liegen hast, gehörst du nicht dazu, da kannst du zehnmal hier geboren sein, Hiesiger bist du noch lange nicht“ lautet heute noch der gängige Spruch.
Geschichte hatte mich schon als Kind fasziniert, auch die erste Form des Geschichtsunterrichts, die Heimatkunde. Ich war brennend an der jeweiligen Fortsetzung der spannenden Geschichte von Störtebecker, der Hanse und damit meiner Stadt interessiert. Wenn aber andere dann zu erzählen wussten, was ihre Vorfahren für die Stadt getan hatten, dass sie dabei waren, wenn dies oder das passierte, konnte ich nur schweigen. Fast ein wenig beschämt war ich, denn meine Ahnen hatten nichts beigetragen, wir genossen nur die Früchte. Einige triumphierende Ätsch-Ätsch-Blicke spürte man schon aus den Augenwinkeln heraus.
Erst als Erwachsene wollte ich dieses Gefühl der Andersartigkeit auch selbst ergründen. Lag es nur am Familientrauma der Flucht oder womöglich an andersartigen Menschen aus einer anderen Welt die mich geprägt hatten?
Als ich 1976 zum ersten Mal nach Ostpreußen reiste, war ich vierundzwanzig Jahre alt und ziemlich weit entfernt von den Gedanken und Empfindungen der Kindheit. Andere Dinge waren wichtiger geworden und hatten Ostpreußen verdrängt. Die Einflüsse von außerhalb der Familie waren größer geworden, eigene Erfahrungen kamen dazu. Der Horizont wurde größer, andere Interessen dominierten, der Zeitgeist der Studentenrevolte nahm Einfluss, als Spätachtundsechzigerin bezog ich Stellung zu allem und jedem. Langsam wurde aber auch ich erwachsen, die Meinungen waren nicht mehr so radikal, Anpassung, die man ja eigentlich nie wollte, begann ganz schleichend, man suchte seinen Platz im Leben zu finden.
Die Entfernung zwischen den vielen Geschichten meiner Kinderzeit und meinem jetzigen Leben konnte nicht größer sein, ich hielt sie mittlerweile für bedeutungslos, sie hatten keinerlei Bezug zu meinem eigenen Leben, die Welt hatte sich in immer schnellerem Tempo von ihnen weg bewegt. Trotzdem, bei jedem Familienfest kamen immer noch die unvermeidlichen Zuhause – Geschichten aufs Tapet.
Mittlerweile ging ich diesen Komplex mit ironischer bis sarkastischer Distanziertheit an, ich kommentierte dann etwa wie ‚ich weiß, vor dreißig Jahren in Ostpreußen hat das Brot ’nen Groschen gekostet und alles war besser‘, Ostpreußen nannte ich jetzt oft Kalte Heimat.
Als mein Vater mir von seinen Reiseplänen erzählte, war ich trotzdem gleich Feuer und Flamme, natürlich wollte ich mitfahren.
Wenn ich mich heute frage, warum ich ihn damals unbedingt begleiten wollte, war das sicher ein ganzes Gemenge von Beweggründen. Von einiger Bedeutung war sicher eine gewisse Abenteuerlust, go east, bis heute eines der letzten Abenteuer Europas, nur dass es heute viel weiter geht als nur bis Polen. In den 70er Jahren war Polen jedenfalls Richtung Osten für den PKW-Individualtouristen das maximal mögliche Ziel. Es herrschte Kalter Krieg und ich war noch nie in einem Ostblockland gewesen.
Östlich der Elbe war die Landkarte für mich was Reisemöglichkeiten betraf ein einziger weißer Fleck, weiter entfernt als der Südpol, weil noch unerreichbarer. Nun sollte ich diese terra incognita für mich entdecken! Gewiss war da auch Neugier auf das ‚Land der Väter‘, das meine Kindheit so beherrscht hatte, so fern war und doch so vertraut.
Bilder hatten sie in mir mit all ihren Erzählungen entstehen lassen, jetzt wollte ich natürlich überprüfen, ob sie der Wirklichkeit standhielten. Skeptisch war ich diesbezüglich schon und durchaus gewärtig, dass vieles schöngeredet, ja glorifiziert worden war.
Schöne Landschaften gab es schließlich auch anderswo auf Erden. Und vor allem wollte ich mich in meinem Urteil keineswegs von etwaiger Rührung meines Vaters oder irgendwelchen sonstigen Emotionen beeinflussen lassen. Nüchtern wollte ich mir dieses gelobte Land ansehen, möglichst objektiv beobachten und Abstand wahren, wenn nicht anders, dann meine bewährte ironische Distanziertheit vorschieben, bevor ich mich in sentimentalen Gefühlen verlor. Anschließend würde ich das Ganze dann auf einer Art touristischer Skala einordnen um es mit anderen bereits gesehenen Gegenden vergleichen zu können. Ich war durchaus bereit, diese Skala nach unten hin offen zu halten, war bereit auch zu beißender Kritik. Ehrlich gesagt hielt ich die meisten Schilderungen sowieso längst für übertrieben, und überhaupt war ich mit meinen vierundzwanzig Jahren schließlich abgeklärt, welterfahren, ja fast kosmopolitisch zu nennen.
Dann ging es endlich los, wir fuhren mit der Fähre bis Danzig, die DDR wollten wir uns nicht antun. Die Stimmung auf dem Schiff änderte sich, je näher wir Danzig kamen. Eine Spannung lag über dem Deck, eine bebende Erwartung, seit mit der Halbinsel Hela Land in Sicht kam. immer mehr Passagiere drängten an die der Küste zugewandten Reling.
Fast alle fuhren ja aus dem selben Grund nach Danzig, so war man dann auch am vorigen Abend leicht ins Gespräch gekommen. Etliche Mitreisende sahen angestrengt aus, viele hatten nicht geschlafen, so aufgewühlt waren sie. Die meisten kamen zum ersten Mal nach Kriegsende in die Heimat zurück. Als das Schiff in die Danziger Bucht einlief, der Hafen von Hela an Steuerbord lag und an der Küste voraus Einzelheiten erkennbar wurden, kam die erste Erschütterung bei denjenigen hoch, die dort zu Hause waren und auch bei jenen, die ihre Heimat per Schiff verlassen hatten.
Noch einmal kam Bewegung ins Schiff, als die Fähre querab von der Westerplatte drehen mußte, damit später die Autos vorwärts von Bord rollen konnten. Die Lautsprecher dröhnten, es wurde angesagt, wie die Zollformalitäten und das Ausborden vonstatten gehen würden. Besonders eindringlich und laut wurde verkündet, was man alles nicht fotografieren durfte, vor allem nicht den Marinehafen Westerplatte, was aber niemanden abhielt. Schnell noch ein Foto, dann ab auf die andere Schiffsseite, wo jetzt alle dichtgedrängt beim Einlaufen nach Neufahrwasser standen. Wer dies wollte, wurde in stummem Einverständnis in die vorderste Reihe an die Reling gelassen, keine Drängelei, kein Geschubse, man wusste ja aus den Gesprächen vom Vorabend, dass einige von Angehörigen abgeholt werden würden, die sie seit der Flucht nicht mehr gesehen hatten. An Land vor dem eingezäunten Zollhafen, direkt am Uferzaun winkende Menschen in Zweierreihe, an Bord Aufschreie des Erkennens, Grüße, tränenüberströmte Gesichter, rudernde Arme, die Tücher schwenkten.
Als das Schiff festmachte und alles zu den Autos oder den Gangways für die Fußgänger eilte, sah ich im Vorübergehen noch einmal die ältere Dame, mit der wir uns am Vorabend unterhalten hatten. Nicht anheben konnte sie ihren Koffer, nur auf dem Boden schieben, er war voller Konserven für die Ihren, die sie seit Kriegsende nicht gesehen hat. Den ganzen Abend kreisten ihre Gedanken darum, ob sie die Schwester und die Tochter überhaupt wiedererkennen würde, die mit dem Mann kommen würde, ihrem Schwiegersohn und den beiden Enkeln, die sie alle drei gar nicht kannte. Sie winkte uns fast triumphierend zum Abschied, gestikulierend, dass sie die Ihren schon entdeckt hatte, ein Lächeln aus einer anderen Welt traf mich, vollkommen entrückt, noch von Tränen verschleiert, aber unendlich glücklich, am Ziel allen Sehnens.
Erst jetzt begann ich die gefühlsmäßige Ebene und Bedeutung dieses Heimatverlustes zu begreifen, das emotionale Leid, das er verursacht hatte und auch noch über dreißig Jahren noch immer verursachte, verstand dass er auch zusammengesetzt war aus einer Vielzahl an menschlichen und zwischenmenschlichen Tragödien.
Nach gut dreistündiger Wartezeit hatten wir bei dieser ersten Reise die Prozedur der Zollabfertigung komplikationslos hinter uns gebracht. Als wir uns Richtung Danzig-Langfuhr in Bewegung setzten, kam es mir vor, als ob das Abenteuer jetzt erst so richtig begann. Die ersten Kilometer fuhren wir noch sehr vorsichtig, wir waren schließlich im Ostblock und wollten uns nicht gleich Ärger durch eine Geschwindigkeitsübertretung einhandeln. Wir rollten durch Neufahrwasser, Arbeiterviertel grau in grau, Straßenzüge und Teerbeläge trugen die gleichen trüben Spuren relativ ungebremsten Verfalls. Man gewöhnte sich schnell an Fahrweise und Straßenzustand, Straßenbahn- und andere Schienen waren ‚auf Putz‘ verlegt.
Weiter fuhren wir am Bahnhof vorbei im weiten Linksbogen um die Altstadt herum. Durch pulsierenden Feierabendverkehr verließen wir Danzig auf jetzt guter, breiter Straße. Industrieviertel wurden langsam vom satten grün der Weichselniederung abgelöst. Wir passierten langgestreckte Dörfer und sahen hier und da noch die für diese Gegend typischen hölzernen Vorlaubenhäuser. Jedes bewohnte Storchennest wurde noch begeistert begrüßt.
Bis nach Elbing hin blieb das Land bretteben, ähnlich wie die mir vertraute norddeutsche Marschlandschaft. Aber viel weitläufiger erschien sie mir doch, dünner besiedelt und urwüchsiger. Hinter Elbing ging die Ebene bald in sanfte Moränenhügel über.
Die Frage, ob ganz Ostpreußen so hügelig wäre, bejahte mein Vater zumindest für den uns jetzt zugänglichen polnischen Teil, also das Oberland, Ermland und Masuren. Er sah mich etwas erstaunt an und fragte halb belustigt, halb pikiert, ob ich denn wohl glaubte, es wäre überall nördlich der Alpen ähnlich ‚plattdeutsch‘ wie bei Stade. Da musste ich also schon mein erstes Bild revidieren, denn irgendwie hatte ich die Vorstellung, ostpreußische Weite mit durchgehend flachem Gelände verbinden zu müssen, mit diesem ‚mittwochs schon sehen können, dass Tante Frieda am Sonntag zum Kaffee kommt‘ der norddeutschen Tiefebene.
Das Erstaunen legte sich, die liebliche, rundliche Landschaft fing an, mir zu gefallen, abwechslungsreich war sie, mit saftig dunkelgrünen Wiesen, hellen Roggen- und gelbblonden Weizenfeldern, ausgedehnten Wäldern und den ersten Seen. Es war Hochsommer, kurz vor der Getreideernte, die zweite Heumahd war im Gange. Landwirtschaft der Gegensätze, hier agrarindustrielle Bearbeitung von Staatsgütern, daneben Kleinbauern mit Pferd und Wagen, fast archaisch anmutend..
Wir wollten eine Rast machen und hielten auf einem zum Parkplatz umfunktionierten alten Kurvenstück der Straße, einer wunderschönen, von mächtigen alten Bäumen gesäumten Allee. Wir stiegen aus und vertraten uns die Füße. Man könnte dabei ja auch gleich ein paar Landschaftsaufnahmen machen dachte ich bei mir und holte die Kamera. Es kam weit und breit kein Auto und ich spürte zum ersten Mal die Ruhe, die über dem Land lag. Ein Stück weiter hinter der Straßenbiegung wiegte sich weizenblondes Getreide im stetigen lauen Sommerwind. da sah ich sie zum ersten Mal am Feldrand. knallblaue Kornblumen und Klatschmohninseln von einem schier unglaublich leuchtenden rot.
Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber lag eine frischgemähte Wiese, auf der hoheitsvoll, fast feierlich schreitend zwei Störche Mahlzeit hielten und sich von nichts und niemandem stören ließen. Ein Stück weiter wurde Heu eingefahren, ein hochbeladener , von zwei Pferden gezogener Wagen bog gerade auf einen von der Hauptstraße in weitem Bogen leicht bergab nach rechts führenden Feldweg ein. Ich ging den Weg entlang, der von der Trockenheit der flirrenden Sommerhitze ganz staubig war. An seinen Rändern jedoch gedieh eine nie gesehene Farbenpracht aus der vielstimmiges Gezirpe und Gesumme sprudelte.
Expedition Kalte Heimat hatte ich das Unternehmen ironisch-distanziert genannt, aber das war’s dann auch schon. Dieser eine, erste kleine Spaziergang genügte und ich war hin und weg. Ich konnte mich kaum satt sehen an den klaren Farben, an der weit bis zum Horizont offen daliegenden Landschaft, hügelig, rundlich, beschaulich. Eine Sommerlandschaft aus einer anderen Zeit, fast unwirklich friedlich und still, einladend zum Innehalten und Träumen, ohne Ecken und Kanten, wie von einem alten Meister gemalt, anheimelnd.
Aber etwas war anders, als ich es aus ihren Erzählungen kannte, die mir viele Jahre lang manchmal so gewaltig auf den Nerv gegangen waren. Ich grübelte immer wider darüber und brauchte lange, bis ich dahinter kam was es war. Die Bilder, die all die Geschichten aus der Kalten Heimat in mir hervorgerufen hatten, waren nicht farbig. Sie waren schwarz – weiß, wie die alten Fotos in ihren Erinnerungsbüchern.
Als ich zum Auto zurückkam, hatte ich einen ganzen Film verschossen und wusste, diese Bilder würde ich nie wieder vergessen, auch wenn die Fotos nur Bruchteile davon zeigen würden. Ich spürte, etwas in mir hatte sich verändert, die Distanz war mir völlig abhanden gekommen. Wie unendlich weh musste der Verlust dieses Landes meinen Eltern und Großeltern getan haben, langsam begann ich die Dimension zu begreifen, den Schmerz und hatte das Gefühl Abbitte leisten zu müssen für meine Lästereien. Und noch etwas: ich hatte mich verguckt in dieses Land, fing an es zu lieben.
Als wir weiterfuhren fragte ich mich, wie das möglich war, ich hatte schon so viel von der Welt gesehen, so schöne Landstriche und dann das hier. Es war nicht nur die Schönheit, vom ersten Augenblick an spürte ich diese ganz besondere Verbundenheit, die sich nie wieder löste.
Das hier war auch ein Stück von mir, gehörte zu mir, wie mein Name.
Das Land und ich , wir hatten uns gefunden.