Die Kunst des Nötigens

Wenn Ostpreußen einen Esstisch käuflich erwarben, wurden bei der Wahl des richtigen Möbels besondere Qualitätsmaßstäbe angesetzt. Natürlich, ausziehbar musste das gute Stück sein, damit genügend Gäste daran Platz fanden. Vor allem aber musste es stabil sein. Kurz: auszuzeichnen hatte den Esstisch einer ostpreußischen Familie eine ganz außerordentliche Tragfähigkeit, denn er hatte weit größere Lasten zu tragen, als das Esstische in anderen Landstrichen mussten.

Einen solchen Tisch besaßen auch die Großeltern, gewaltig ausziehbar, enorm tragfähig und so solide, dass der vollgestopfte Gast sich schließlich noch gefahrlos beim Aufstehen am äußersten ausgezogenen Ende abstützen konnte. Dieser Tisch war – wie in jeder ostpreußischen Familie – der Mittelpunkt des Lebens.

Großmutter war die fleischgewordene ostpreußische Gastlichkeit. Keine Feier, ohne dass sich die Tische gefährlich bogen unter der Last der Speisen und Getränke. Bei jedem Gastmahl wurde gebacken, gekocht, gebraten und aufgefahren, als ob ganze Völkerstämme das Haus heimsuchen würden und nicht etwa nur die üblichen Geburtstagsgäste kämen.

Wie über all in Ostpreußen gehörte für Großmutter und Großvater zu einem ordentlichen Gastmahl die Kunst des richtigen Nötigens, und: sie waren Meister in diesem Fach, dabei war diese Kunst weit diffiziler als man es sich landläufig so vorstellen möchte.

Das Nötigen war nämlich ein Brauch, der ablief, als ob die Beteiligten Akteure eines gut inszenierten Dramas waren,  das sich nach einem Drehbuch abspulte, welches nach allen Regeln guter Dramaturgie aufgebaut war. Nur in der Ausgestaltung der eigenen Rolle gab es einige kleinere darstellerische Freiheiten.

Da reichte es keinesfalls, wie es in anderen Landstrichen der Brauch war, einfach mit einladender Geste aufzufordern „na bitteschön, legen Sie sich doch nach“ oder vielleicht noch schlichter wie in Norddeutschland üblich „nehmen Sie doch hin“.

Nein, das Nötigen war ein komplizierter, feingesponnener Ritus, dem jeweiligen Anlass der Bewirtung angemessen, sonst hätte vor allem Großvater keinen Spaß daran gehabt.

Saß nur die engste Familie am Tisch, ging es zwar auch nicht ganz ohne Nötigen, aber ein verschmitztes „eß man eß und lass dir nich netigen“ genügte, wobei Großvater es so betonte, dass auch der Übelwollendste noch erkennen musste, dass ihm die korrekte Verwendung von Dir und Dich durchaus geläufig war.

Mit zunehmender Bedeutung der Gäste oder auch des Anlasses wurde das Nötigen subtiler, Großmutter und Großvater beherrschten die feinen Nuancen und schienen sich jedes Mal so recht darauf zu freuen – vorausgesetzt, die Gäste verhielten sich den SpielRegeln gemäß.

Wer die Regeln nämlich nicht befolgte, wer das Spiel nicht mitspielte, der verdarb Großvater den Spaß, das betrachtete er als ungehörig. Ein Gast, der sich entweder nicht gebührend zierte, oder sich nicht bis kurz vor der Übelkeit vollprimsen ließ wie eine Stopfgans, hatte einfach keine Kultur.

Wie in jedem Haus guter ostpreußischer Gastlichkeit wäre auch bei Großmutter und Großvater kein Gast je auf die Idee gekommen, sich einfach selbst nachzulegen. Hatte er eine nach Großvaters Ansicht auch nur halbwegs brauchbare Erziehung genossen, wartete er, dazu aufgefordert, eben genötigt zu werden. Bei Großmutter allerdings musste er darauf nicht warten, denn sie war eine aufmerksame Gastgeberin, und da kam es ja überhaupt nicht vor, dass ein Teller leer wurde.

Die Einstiegsregel lautete bei diesem Ritual nämlich, dass das Nötigen gefälligst zu beginnen hatte, wenn irgend etwas auf irgendeinem Teller auch nur zur Hälfte verzehrt war.

„Na bittescheen, nimm noch Rotkohl und Sie, nehmen Se doch noch Kartoffeln. Genieren Se sich man nich, draußen in der Küche ist ja noch viiiiel mehr, es soll doch man bloß nich kalt werden,“ rief Großmutter eindringlich in das geschäftige Besteckgeklapper hinein, das war ihre Standard-Einstiegsvariante.

Von den Gästen fast unbemerkt, hatte sie ihr unsichtbares Geflecht über die Tafel gezogen und beherrschte die Gesellschaft von nun an souverän an den Fäden ziehend. Sie gab nun keine Ruhe mehr und sorgte dafür, dass Schüsseln und Fleischplatten ständig kreisten.

Großmutters Augen wanderten flink über die Tafel, sie wirkte dann immer ein wenig wie ein mit Überblick in größerer Höhe kreisender Habicht, der im entscheidenden Moment zustieß. „Ach Gott, ach Gott, Ihnen schmeckt ja wohl auch gar nich. Sie essen ja wie e Spatz“ attackierte sie den ersten ausgemachten säumigen Esser.

In jedem Fall erwartete sie jetzt vom Gast einen energischen Protest etwa dieser Art: „aber i wo nei doch, es schmeckt ganz ausgezeichnet!“

Wehe aber, der Gast unterbrach den Fortgang des Nötigens, indem er einfach nichts entgegnete, weil es ihm vielleicht wirklich nicht so besonders schmeckte! Das war natürlich ein grober Verstoß gegen den Verhaltenskodex und ein nachgerade unentschuldbarer Fauxpas. Er mochte ja denken, was er wollte, der werte Gast, aber einfach nuscht sagen?

Ich erwähne diese Möglichkeit auch nur der Vollständigkeit halber, denn so etwas kam ja allenfalls bei zugereisten Gästen vor, die ostpreußische Gepflogenheiten nicht kannten und daher entschuldigt waren, sonst höchstens unter Verwandten, die sich nicht grün waren, bei Großmutter aber natürlich gar nicht.

Nun könnte man wiederum erschöpfende, langwierige Überlegungen anstellen, warum solches bei Großmutter nicht vorkam, ob sie so gut kochte, den Geschmack der Gäste meist traf, etwa keine böswilligen Verwandten hatte, oder ob sie solche einfach nur nicht einlud, aber das würde jetzt zu weit vom Thema abführen und wäre schon wieder eine andere Geschichte.

Bleiben wir also beim Nötigen, wir sind uns also einig, ein wohl erzogener Gast tat so etwas nicht, er spielte seinen Part gemäß ungeschriebenem Drehbuch, sonst riskierte er nämlich, dass Großmutter einschnappte, mucksch wurde und Großvater sein Haus als entehrt betrachtete. Bei all der Mühe konnten sie ja wohl erwarten, dass der Gast wenigstens anstandshalber log!

Verhielt sich aber jeder der Gäste den Spielregeln entsprechend, konnte Großmutter um eine Stufe steigern. „Nun bittescheen, nehmen Se doch um Gottes Willen, das muss alles aufgegessen werden, was soll ich denn machen, das wird mir ja alles schlecht,“ appellierte sie verzweifelt an das Verantwortungsbewusstsein der Gäste. Ihr Gesichtsausdruck wurde weinerlich, sie flehte, blickte klagend zum Himmel und rang die Hände. Mit schicksalsergebenen Blick – daran wollte man ja nun wirklich nicht Schuld sein, Lebensmittel ließ man einfach nicht verderben – bekam die Besucherschar die Teller noch einmal vollgeschöpft. Großmutter ließ nach kleinen Anstandspausen, in denen die Tafelnden die Gelegenheit hatten, den Teller etwas zu leeren, nun nicht mehr locker.

„Am End wird mir noch alles verderben, nu tun Se mir doch die Liebe und kosten Se wenigstens von der Ente noch e kleines Happche,“ und schon landete die nächste garantiert randvolle Fleischplatte unter der Nase des normalerweise längst nach Luft schnappenden Gastes, der sein Bestes gab.

 

Übrigens: wegen einer gewissen bestehenden Vorliebe behaupteten boshafte Gemüter schon vor hundert Jahren, die Familie bekäme eine Ente als Wappenvogel, sollte sie jemals in den Adelsstand erhoben werden. Doch zurück zu unserem Festmahl.

Rotwangig, leicht derangiert, manchmal sogar etwas zerpliesert und fast aufgelöst wirkte Großmutter in ihrem Bemühen, für ständig randvolle Teller zu sorgen. Ihre Verzweiflung wuchs proportional zum abnehmenden Esstempo der Gäste, und steigerte sich so weit, dass man erwatete, sie würde sich jeden Moment vor Gram die Kleider einreißen.

Nichtsdestoweniger war irgendwann der Moment gekommen, an dem der hochgeschätzte Gast nur noch matt abwinkte, während seine Hautfarbe ständig von leichenblass nach knallrot und wieder zurück wechselte und er das Würgen eben noch vermeidendend, konzentriert kaute und sorgfältig schluckte. Trotz aller Mühe, die sich die Gäste an Großmutters Tisch gaben, nie ist es auch nur einem gelungen, von allem wenigstens einmal zu probieren. Nun halfen auch alle Kampf-dem-Verderb-Appelle nicht mehr.

Der Bewirtete hatte längst nur noch den einen Wunsch: durchzuhalten, bis Großvater seinen Part übernahm und endlich, endlich das erste Schnäpschen zur Verdauung anbot, nachdem sich sein Part bisher darauf beschränkte hatte, den Gästen gelegentlich von dem schweren Rotwein oder je nachdem auch etwas Bier nachzuschenken.

Diesen Moment, wenn der Gast nach Luft schnappte, wie ein Karpfen auf dem Trockenen, galt es für den listig lächelnden Großvater abzupassen, der schon eine ganze Zeit mit vor Vorfreude roten Wangen an seiner Serviette genestelt hatte und nun endlich aufsprang.

„Vielleicht e Schlubberche zum Nachspülen,“ fragte er freundlich und erwartungsvoll in die Runde blickend. Gott sei Dank lehnte selten jemand ab, selbst die Damen nahmen ihm dankbar ein Danziger Goldwasser oder einen Meschkinnes ab.

Großvater lief nun schon im eigenen Interesse zur Hochform auf: „na, auf einem Beinche kann man doch nicht stehen,“ und schwups, waren die Gläser wieder voll. Die Höflichkeit gebot es natürlich, dass der Herr des Hauses mittrank, er opferte sich meist aber ganz willig und schon ging es weiter: „ aller guten Dinge sind drei!“

Dann folgte noch ein freundliches auch an die Damenwelt gerichtetes „vielleicht noch ein kleines Helferchen für den Magen und die gute Verdauung gefällig?“ Langsam, fast unmerklich ging das Festmahl in ein Gelage über. Die Erfahrung sagte Großvater, dass er die bei Tisch versammelten weiblichen Gäste nun besser nicht mehr ansprach, geschweige denn weiter nötigte, weil eine nach der anderen begann, etwas besorgt drein zu schauen, was sich bei manchen, der anwesenden Frauen im Laufe des Abends bis zu einer gewissen Verbitterung steigerte, je nach Zustand des Ehemanns.

Anschließend folgte eine Runde „auf das sehr geehrte des Gastes“, dann eine auf Großmutter die Hausfrau, die werten Gattinnen der Gäste, die lieben Kinderchen, Eltern, Großeltern und weitere bedeutende lebende oder verstorbene Verwandte, später folgte noch der Kaiser oder die sonstige Obrigkeit, Vereinsvorsitzende und alles, was ihm sonst noch so an Ausreden einfiel. Ach ja,  zwischendurch und ganz ohne weiteren Trink- oder Segensspruch brauchte man manchmal auch noch ein von allen Gästen ohne Widerspruch gern genommenes Klammerchen zwischen zwei Bierchen.

So ging es weiter, bis kurz vor dem Vollrausch niemandem mehr auch nur noch irgendetwas einfiel – ein rundum gelungener Abend.

Großvater erwartete dann bei der Verabschiedung seiner Gäste von diesen die gleiche Formel zu hören, die er selbst bei solch einer Gelegenheit anwendete, sofern ihm die Bewirtung passabel erschienen war: „vielen Dank für Speis’ und Trank, es war gut und einigermaßen reichlich“.

In Fällen in denen die Gastlichkeit aber zu wünschen übrig gelassen hatte klagte nicht nur er daheim „ so weit ging ja, ist man aber bloß nicht genügend genötigt worden“. Einem Verriss jedoch kam es gleich, wenn er meinte „ich hätt’ ja gern noch mehr genommen, es hat aber keiner mehr genötigt“. Das konnte Gästen in seinem Hause natürlich nicht passieren.

Zumindest sorgte er ja immer dafür, dass seine Gäste nicht verdursteten, einem guten Essen hatte ein gemäßigtes Besäufnis zu folgen, – sozusagen in allen Ehren – am besten war es da natürlich, Menschen zu Gast zu haben, die man schon ein wenig kannte, mit denen konnte man sich gepflegt die Schlorren vollkippen,  beziehungsweise die Lampe begießen.

Jeder Ostpreuße, nicht nur Großvater, hatte ja auch immer eine gute Ausrede, wenn er beschwiemt oder gar voll im Stiem nach Hause kam: “was is ze machen, wenn das Nötigen kein Ende nahm!“

Überhaupt, für die Großeltern dauerte ein gelungenes größeres Familienfest – und das fing schon bei einem runden Geburtstag an – eigentlich drei Tage und genauso lange brauchte man auch, um sich wieder davon zu erholen, getreu dem Motto: nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.

 

Da habe ich gewaltig übertrieben was das Nötigen und diese gewisse Tendenz zur barocken Völlerei betrifft? Meinen Sie! Aber ich bitte Sie, da hätten sie erst mal Tante Dita oder gar Tante Gertrud kennen sollen!